Richtet Euch auf und erhebt Eure Häupter

Adventsansprache von Sr. M. Scholastika

In diesen dunklen Tagen singen wir von Neuem im Laudes-Hymnus:

„Ein neuer Stern geht strahlend auf, vor dessen Schein das Dunkel flieht.“

 

So viel Hoffnung ist darin verborgen. Guter Hoffnung dürfen wir sein, denn auch heute ist uns in unsere verworrene Zeit dieser Stern geschenkt, der uns leitet vom Dunkel ins Licht.

Sind wir bereit für diese Zeit der Gnade? 

Bereit für die innere Vorbereitung auf die Hl. Nacht, auf das Kommen unseres GOTTES?

Diese vorweihnachtliche Zeit, die wir mit dem Anzünden der ersten Kerze beginnen, ist uns seit Kindertagen vertraut mit ihren verheißungsvollen Texten und den Bräuchen, die dem wachsenden Licht Raum geben wollen.

Wie sieht unsere persönliche Vorbereitung aus, damit wir diese Wochen im Herzen nicht verschlafen. Denn wir leben mit einer gefährlichen Ausgangslage: wir kennen, was auf uns zukommt - den vierwöchigen Weg gehen wir jedes Jahr. Und Bekanntes kann uns schläfrig machen, abgestumpft, im Sinne: „Kennen wir ja schon!“ Wir leben mit der tröstlichen Gewissheit: „GOTT wird kommen, und ER ist längst gekommen.“ Das lässt uns auch zurücklehnen.

 

Im Evangelium des 1. Adventssonntag wird uns eine ungeheure Erschütterung vorgestellt. Da sind Bilder gezeichnet, die ganz und gar nicht in die Vorstellung dieser besinnlichen Tage passen. Zerstörung. Angstmachende Zustände. Diese gewaltigen Umwälzungen können ein Sinnbild sein für Erschütterungen, die auch unser Herz und unsere Seele durchmachen. Veränderungen machen Angst: wir haben den Eindruck, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Sicherheiten sind uns genommen. Alles wankt!

 

Alfred Delp sagt deutlich, wohlbemerkt aus der Gefangenschaft, kurz vor seiner Hinrichtung: Diese Erschütterung ist gut für uns. Er schreibt:

„Es fehlt vielleicht uns modernen Menschen nichts so sehr als die echte Erschütterung: wirklich da, wo das Leben fest ist, eine Festigkeit zu spüren, und da, wo es labil ist und unsicher ist und haltlos ist und grundlos ist, das auch zu wissen und das auch auszuhalten. Das ist vielleicht die allerletzte Antwort auf die Frage, warum uns Gott in diese Zeit geschickt hat und warum er diese Wirbel über die Erde gehen lässt und warum er uns so in Chaos hineinhält und ins Aussichtslose und ins Dunkle und warum von all dem kein Ende abzusehen ist: weil wir in einer ganz falschen und unechten Sicherheit auf der Erde gestanden haben.“

„Advent ist eine Zeit der Erschütterung, in der der Mensch wach werden soll zu sich selbst“, schreibt Alfred Delp.  Paulus ruft uns auch auf, aus dem Schlaf zu erwachen und zu erkennen: „Es ist ab und zu Zeit zur Umkehr, es ist ab und zu Zeit, die Dinge zu ändern, es ist ab und zu Zeit, zu sagen: gut, es war Nacht, aber lasst es Nacht gewesen sein, und entschließen wir uns jetzt zum Tag.“ (A. Delp) 

·     Das ist die Zeit der Gnade: lernen zu dürfen, dass wir unsere Sicherheit letztlich nur in GOTT finden, dass wir sie nur in diesem Kind in der Krippe gründen können. Das kann ein Umsturz bedeuten für unser Herz.

·     Das ist die Zeit der Gnade: lernen zu dürfen, dass Gott oft ganz andere Wege geht, als wir sie uns wünschen und vorstellen können. Da ist die Krippe, da ist dieses Kreuz.

·     Das ist die Zeit der Gnade: in diesen Tagen menschlicher, d.h. für Alfred Delp gottbereit und gottoffen zu werden.

 

Unser Noviziat kommt in den Genuss, über das Internet an einer Vorlesung über die Theologie des Gebetes teilzunehmen. Referent ist Pater Ludger Schulte, den wir zu Beginn des Generalkapitels im Oktober 2021 erleben durften. Ein Gedanke hat mich in der letzten Vorlesung besonders angesprochen. Pater Ludger brachte uns die tieferen Schichten des Vaterunsers nahe, auch die Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung.“ Unsere größte Versuchung ist vielleicht die, dass wir GOTT nicht trauen, dass wir GOTT nicht GOTT sein zu lassen und daher alles selber in die Hand nehmen wollen. Wir wollen ihn nach unseren Vorstellungen haben. Gott aber ist nicht zu haben. Er zeigt sich uns immer wieder ganz anders. Auch die Kirche: welche Gestalt hält er uns bereit? Wenn wir denken: „Das darf nicht sein!“, dann müssen wir vorsichtig auf unsere Gedanken achten. Dann gleichen sie denen von Simon Petrus, der Jesus hindern wollte, nach Jerusalem zu gehen, weil ihn dort das Kreuz erwartet. Petrus weist seinen Herrn zurecht: 

„Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!“

 

Oder wir bleiben in der Haltung der Pharisäer stecken, die, festgefahren in ihren Gesetzen, ihren Messias nicht erkennen: So kann er doch nicht kommen! So nicht!

 

Das ist ja das Unerhörte: Gott wird Kind. Er wird Kind, damit wir Zeit finden, uns für ihn zu öffnen, mit ihm zu wachsen und hineinzuwachsen in sein wahres Wesen. Dafür haben wir nun erneut ein ganzes Kirchenjahr Zeit. Darum ist es gut, wenn unsere eigenen Bilder, Gewohnheiten und Sichtweisen ins Wanken kommen und wir hoffentlich dann in der inneren Erschütterung die Worte hören dürfen: „Hebt Euer Haupt, Eure Erlösung ist nahe.“

 

Es bleibt ein Geheimnis, dass Gott auf diese Weise kommt. So zerbrechlich, so verwundbar und doch so so stark. Da begegnet uns eine ganz andere Macht. Keine irdische Macht, kein Gehabe, keine Selbstbezogenheit, keine Machenschaften um Ansehen. Kein Neid, keine Gier. Wir bereiten uns vor auf dieses verletzliche Kind, von dem Romano Guardini schreibt: 

„Der Sohn GOTTES ist Menschgeworden. Nicht nur zu einem Menschen herabgestiegen, um in ihm Wohnung zu nehmen, sondern Mensch geworden. Wirklich GEWORDEN. Dieses Kind, auf das wir warten IST Gott.“ 

Guardini sagt es ganz schlicht: „Die Liebe tut solche Dinge.“

 

Die Liebe tut solche Dinge.

Diese Adventstage können uns helfen, dieser Liebe nachzugehen.

Wir erleben ja auch die Angst, die Liebe eines Menschen, die Zuwendung einer Mitschwester zu verlieren, das eigene Gesicht, die eigene Stellung, einen bestimmten Platz, eine Aufgabe in der Gemeinschaft, die Selbstständigkeit. Wenn wir jedoch nicht um diese Ängste wissen, wenn wir sie verdrängen, dann laufen wir Gefahr, uns selbst zu verlieren.

Manchmal missbrauchen wir diese Liebe, um an bestimmte Dinge zu kommen, weil wir nicht den Mut haben, offen zu unseren Bedürfnissen zu stehen. Mag sein, dass wir zuweilen auch Kontakte suchen, um Dieses oder Jenes zu erhalten bzw. zu erreichen. Sind wir ehrlich: Das ist keine Gottoffenheit.

 

Liebe Schwestern,

es gibt in der Spiritualität die Gnade des Nullpunktes.

„Wenn dir, Mensch, alles aus der Hand gleitet, wenn du nichts mehr hast, um dich selbst zu sichern und dir etwas vorzumachen; wenn du dich nicht betäubst, … und auch nicht mit der Geschäftigkeit des Alltags die Angst überspielst, sondern sie dir eingestehst, dann kommst du vor deine eigene Wahrheit, eine Wahrheit, die dich frei macht.“ (Klaus Müller)

Die Bedürftigkeit dieses Kindes, das uns an Weihnachten neu in die Hände gelegt wird, lädt uns ein, unsere Bedürftigkeit und unser Angewiesensein anzunehmen: 

Ich muss nicht die Starke sein, die Alleskönnerin.

Ich brauche mir nichts mehr vorzumachen,

und ich will niemanden mehr gebrauchen für die Befriedigung meiner eigenen Bedürfnisse.

Ich darf lernen, meine Grenzen da sein zu lassen, muss nichts mehr klein- und auch nichts schönreden. 

Ich darf zu mir stehen, weil GOTT längst schon sein Ja zu mir gesagt hat. 

Ich weiß um meine Einsamkeit und gehe behutsam mit ihr um. 

Ich habe den Mut, mir selber zu begegnen, weil tiefer als mein Wissen um mich eine Wirklichkeit in mir ist, die ihren Ursprung in Gott hat. 

Ich muss mein Leben nicht selber schaffen. 

Mein Nullpunkt liegt in Gott, und für Gott bin ich der Höhepunkt. Und:

„Wo nichts mehr in meiner Macht steht, bleibt mir, 

Mensch zu sein, wie Gott es gedacht hat: 

also die Menschlichkeit.“

Wenn wir in unsere Welt schauen, 

brauchen nichts mehr als Menschlichkeit und Solidarität.

 

Liebe Schwestern,

nicht wir bereiten den Advent, sondern der Advent bereitet uns. 

An uns ist es, die Ankunft unseres Gottes an uns geschehen zu lassen. 

Dazu brauchen wir auch die Stille der Gottesgeburt.

Wir hören in der Hl. Nacht:

„Als tiefes Schweigen das All umfing 

und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, 

da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, 

vom königlichen Thron herab." (Weisheit 18,14f)

Wir lassen Romanio Guardini sprechen:

„Die Worte sprechen von dem Geheimnis der Menschwerdung, 

und die unendliche Stille, die darin waltet, drückt sich wunderbar in ihnen aus. 

In der Stille geschehen ja die großen Dinge. 

Nicht in Lärm und Aufwand der äußeren Ereignisse, 

sondern in der Klarheit des inneren Sehens, in der leisen Bewegung des Entscheidens, auch im verborgenen Überwinden … 

Die leisen Mächte sind die eigentlich starken. 

Auf das stillste aller Geschehnisse, auf jenes, das still ist von Gott her, diesem Geheimnis können wir auch nur in der Stille unser Herz bereiten.“

 Jede von uns kann aus der Stille die Menschlichkeit leben - nochmal Alfred Delp:

Advent heißt 

„selbst als kündender Bote (als kündende Botin) durch diese grauen Tage gehen. 

So viel Mut bedarf der Stärkung, so viel Verzweiflung der Tröstung, 

so viel Härte der milden Hand und der aufhellenden Deutung, 

so viel Einsamkeit schreit nach dem befreienden Wort, 

so viel Verlust und Schmerz sucht einen inneren Sinn. 

Gottes Boten wissen um den Segen, 

den der Herrgott auch in diese geschichtlichen Stunden hineingesät hat. 

Gläubig harren auf die Fruchtbarkeit der schweigenden Erde 

und die Fülle der kommenden Ernte, 

das heißt die Welt, auch diese Welt im Advent verstehen. 

Gläubig harren: aber nicht mehr, weil wir der Erde trauen 

oder unserm Stern oder dem Temperament und dem guten Mut, 

nur noch, weil wir die Botschaften Gottes vernommen haben 

und von seinen kündenden Engeln wissen und selbst einem begegnet sind.“

Das ist Gottesgeburt im Menschen, Eintauchen in das Wesen Gottes:

Das Gottvertrauen und die Güte, die Jesus beseelten, 

sie haben gemacht, dass seine Menschlichkeit Menschen durch und durch ging, manchmal so sehr, dass einer durch seine bloße Gegenwart gesund geworden ist, 

wenn er zuvor, von der Angst zerrissen, gar nicht mehr er selber hat sein können. 

Jesu Gottvertrauen und seine Güte haben Menschen ermutigt, 

neu anzufangen mit Gott und mit sich. 

Die haben ihnen die Kraft gegeben, die Not ihres Lebens menschlich zu bestehen … Gott zu trauen wie Jesus und ein wenig auch nur von der Güte zu leben, für die er steht, das macht stark gegen das Chaos, das die Angst anrichtet.

(Klaus Müller)

 

 

Liebe Schwestern,

von ganzem Herzen wünsche ich uns Mut, dass der Advent uns bereiten darf,

dass wir hineinfinden in dieses Werden, in dieses Menschwerden… und es wird sich zeigen: in Christus, in diesem Kind, sind wir eine neue Schöpfung.

Sr. M. Scholastika