Totgeglaubte leben länger – als ich am 27. Juni das kleine, von der Glucke verstoßene Küken aus dem Hühnerstall fischte, hätte ich nicht gedacht, dass es auch nur den Hauch einer Überlebenschance hat. Ich legte es in einen Schuhkarton und bastelte in meiner Dusche mit einer Rotlichtlampe einen „Brutkasten“. Als es dann in der kommenden Nacht irgendwann aufhörte zu piepsen und mit den Beinchen nach oben im Karton lag, schaltete ich die Rotlichtlampe aus, in der Meinung, es habe das Zeitliche gesegnet. Doch dann wurde ich um 5:30 Uhr von einem Piepsen geweckt, und siehe da, das Viehchen war tatsächlich noch am Leben! Dies war der Startschuss zu einem „Sommermärchen“, welches wir Schwestern wahrscheinlich so schnell nicht vergessen werden. Die brütende Hitze ab der letzten Juni-Woche leistete einen wertvollen Beitrag dazu, dass unser „Urselchen“ (so wurde es von unserer Generalpriorin getauft) sich auch ohne wärmende Glucke binnen kürzester Zeit prächtig entwickelte. Während des Zwischenkapitels unserer Gemeinschaft, bei dem wir Schwestern über schwierigen Zukunftsfragen brüteten, stand Urselchens Kiste hinter einem Fenster in der Sonne, und in den Pausen durfte sie mit lautem Gepiepse ihre Runden durch den Mariensaal drehen. Von Tag zu Tag wurde sie agiler, verlor ihren Flaum, entwickelte Federchen, sprang dann kurze Zeit später todesmutig aus der Kiste, um auf eigene Faust die Welt zu erkunden. Statt seiner Mutter lief es in diesen Wochen allem hinterher, was weiß gekleidet war und vor allem ein Skapulier anhatte- so drehte ich zur Erheiterung unserer Gäste meine Gartenrunde am Morgen und am Abend mit dem Küken im Schlepptau. Urselchen war immer dabei, wenn wir Rekreation hatten, und als sie dann etwas größer war, liebte sie es, auf meine Schulter zu fliegen und sich durch die Gegend tragen zu lassen. Nochmal eine Nummer größer geworden, setzten wir sie tagsüber in unseren Marienhof, wo sie durch die geöffneten Fenster andächtig dem Chorgebet lauschte. Interessanterweise war Urselchen immer ganz ruhig, solange wir sangen, machte sich dann aber laut bemerkbar, sobald das Gebet zu Ende war. Unser ansonsten wenig belebter Klausurhof wurde in diesem Sommer zu DER Attraktion für die Schwestern, besonders natürlich am Abend, wenn wir mit vereinten Kräften versuchten, das rasend schnelle Hühnchen wieder einzufangen, um es in sein Nachtquartier zu bringen.
Am vergangenen Wochenende war es nun soweit, selbst die größte Hühnerliebhaberin musste zugeben, dass Urselchen jetzt definitiv groß genug ist, um zu den anderen Hühnern auf die große Wiese
umziehen und wir setzten das heiß geliebte Tierchen zu seinen Artgenossen, die ihm sogar einen einigermaßen freundlichen Empfang bereiteten. So viel steht fest: Hätte es bei uns im Kloster jemals
so etwas wie ein Sommerloch gegeben: DAS wäre die perfekte Füllung gewesen :-)
Für mich wurde Urselchen jedenfalls zum starken Zeichen dafür, wie sich das Leben immer wieder Bahn bricht, manchmal sogar unter widrigsten Umständen. Und wie schön, wenn das aufblühende Leben
dann auch andere lebendig macht!
Sr. M. Ursula